Die 11. GWB Novelle: Neue Eingriffsbefugnisse des Bundeskartellamtes schaffen neue Herausforderungen für Unternehmen
Eine Reform zur Stärkung des Wettbewerbs
Am Tag nach der Verkündung am 6. November 2023 ist die von Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Dr. Robert Habeck, als „größte Reform des Wettbewerbsrechts seit Ludwig Erhard“ bezeichnete Gesetzesänderung in Kraft getreten. Die als Wettbewerbsdurchsetzungsgesetz benannte 11. GWB-Novelle dient der Verschärfung des Wettbewerbsrechts und soll laut Habeck ein Kartellrecht mit „Klauen und Zähnen“ repräsentieren.
Die 11. GWB-Novelle enthält drei wesentliche Elemente: Das „Kernstück“ der Novelle ist der neu eingefügte § 32f GWB, der dem Bundeskartellamt im Anschluss an die Durchführung von Sektoruntersuchungen neue Befugnisse erteilt. Außerdem wird durch § 34 Absatz 4 GWB eine erleichterte Abschöpfung kartellrechtswidrig erzielter Vorteile ermöglicht sowie gesetzlich festgelegt, dass die Europäische Kommission nach § 32g GWB bei der Durchsetzung des Digital Markets Act („DMA“) die Unterstützung des Bundeskartellamts erhält. Die Novelle erleichtert zusätzlich die private Durchsetzung des DMA.
Im Hinblick auf die neuen Eingriffsbefugnisse des Bundeskartellamtes in die unmittelbare Geschäftspolitik und -struktur von Unternehmen stellt die Gesetzesnovelle einen Meilenstein in der Weiterentwicklung des nationalen Kartellrechts dar. Denn zum ersten Mal ermöglicht der Gesetzgeber proaktive Eingriffe in den Wettbewerb, um das Entstehen von unerwünschten Marktsituationen bereits im Vorhinein zu verhindern. Soweit sie bereits entstanden sind, können sie wieder aufgelöst werden. Dafür muss es gerade nicht zu einem konkreten sanktionswürdigen Verhalten von Unternehmen gekommen sein.
Was heißt das genau? Das Bundeskartellamt kann zukünftig ohne Vorliegen eines festgestellten Kartellrechtsverstoßes durch ein Unternehmen bereits bei einer im Rahmen einer Sektoruntersuchung festgestellten bloßen „Störung des Wettbewerbs“ eingreifen. Damit sollen vor allem stark konzentrierte Märkte, aber auch kleinere regionale Märkte, die selten der Fusionskontrolle unterliegen, vom GWB erfasst werden. Gerade diese weitreichenden neuen Eingriffsbefugnisse haben in der Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zu zahlreichen kontroversen Diskussionen geführt und sind auf Kritik gestoßen. Die Bezeichnung als „Paradigmenwechsel im Kartellrecht“ erscheint hier durchaus berechtigt.
Die Neuerungen im Einzelnen
Erweiterte Eingriffsbefugnisse des Bundeskartellamts im Anschluss an Sektoruntersuchungen
Neben den drei klassischen „Säulen“ des deutschen Kartellrechts – dem Verbot von Kartellen, der Missbrauchsaufsicht und der Fusionskontrolle – wurde ein weiteres Eingriffsinstrument zum Schutz des Wettbewerbs eingeführt: Nunmehr kann das Bundeskartellamt nach der Untersuchung eines Wirtschaftsbereichs auf Störungen des Wettbewerbs (sog. „Sektoruntersuchung“), zielgerichtete Maßnahmen ergreifen, um festgestellte erhebliche und fortwährende Störungen zu beheben, ohne dass ein rechtswidriges Verhalten eines Unternehmens stattgefunden haben muss. Diese vierte „Säule“ weicht also von der bisherigen Dogmatik der kartellrechtlichen Eingriffsbefugnisse ab, die stets ein konkretes wettbewerbsbeschränkendes Verhalten eines Unternehmens in Form eines Verstoßes gegen das Kartellverbot, das Verbot des Marktmachtmissbrauchs oder das fusionskontrollrechtliche Vollzugsverbot voraussetzte.
Im Fall einer erheblichen und fortwährenden Störung des Wettbewerbs kann das Bundeskartellamt einschreiten, wenn qualitativ insbesondere die Regelbeispiele (z.B. gleichförmiges oder koordiniertes Verhalten) erfüllt sind sowie in zeitlicher Hinsicht die Störung bereits seit drei Jahren besteht und auch in den nächsten zwei Jahren fortbestehen wird (§ 32f Absatz 5 GWB).
Die hierfür vorgesehenen Gegenmaßnahmen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Intensität, wobei selbst die nach Auffassung des Gesetzgebers „weniger einschneidenden“ Maßnahmen relativ weitgehend sind: Hauptsächlich handelt es sich hierbei um solche, die an das Verhalten der Marktteilnehmer anknüpfen und den Marktzugang für Dritte erleichtern sollen. So kann das Bundeskartellamt zukünftig beispielsweise sehr langfristige Bindungen in Lieferverträgen untersagen oder Unternehmen verpflichten, die eigenen Produkte mit denen anderer Hersteller technisch kompatibel auszugestalten. Das Bundeskartellamt kann Unternehmen auch untersagen, bestimmte Informationen zu veröffentlichen, die für eine stillschweigende Abstimmung von Preisen oder Produktionsmengen auf einem Markt geeignet sind.
Die 11. GWB-Novelle sieht darüber hinaus die Möglichkeit sehr einschneidender Maßnahmen struktureller Art vor. Soweit Wettbewerbsstörungen tiefgreifende strukturelle Ursachen haben, ist das Bundeskartellamt zukünftig sogar befugt, eine eigentumsrechtliche Entflechtung anzuordnen. Dadurch wird das betroffene Unternehmen verpflichtet, Unternehmensanteile oder Vermögen zu veräußern. Dieses Instrument soll jedoch nur Anwendung finden, wenn es im Extremfall das letzte Mittel zur Beseitigung der festgestellten Wettbewerbsstörung darstellt. Es ist zudem noch an einige zusätzliche Anforderungen geknüpft (z.B. keine anderen Abhilfemaßnahmen gleicher Wirksamkeit, vorherige Stellungnahme der Monopolkommission).
Komplementiert werden die Kompetenzen des Bundeskartellamts in § 32f Absatz 2 GWB um die Befugnis, Unternehmen des untersuchten Sektors nach einer Sektoruntersuchung einer Pflicht zur Anmeldung aller Zusammenschlussvorhaben zu unterwerfen. Das ist dann möglich, wenn objektiv nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür bestehen, dass künftige Zusammenschlüsse den wirksamen Wettbewerb im Inland oder in dem untersuchten Wirtschaftszweig erheblich behindern können. Die Verpflichtung ist auf einen Zeitraum von drei Jahren ab Zustellung der Verfügung begrenzt. Sie gilt nur für Zusammenschlüsse, bei denen der Erwerber im letzten Geschäftsjahr Umsatzerlöse im Inland von mehr als 50 Millionen Euro und das zu erwerbende Unternehmen im letzten Geschäftsjahr mehr als 500.000 Euro Umsatz erzielt hat – d.h. bereits für sehr viel kleinere Transaktionen, als sie bisher unter der regulären Fusionskontrolle oder unter dem speziellen und nun ersetzten § 39a GWB erfasst worden wären.
Erleichterte Vorteilsabschöpfung durch Einführung einer doppelten Vermutungsregelung
Die 11. GWB-Novelle sieht zudem eine deutliche Ausweitung des Instruments der Vorteilsabschöpfung vor. Das Bundeskartellamt hat bereits seit dem Jahr 1999 die Möglichkeit einer Vorteilsabschöpfung. Die Abschöpfung soll sicherstellen, dass keine wirtschaftlichen Vorteile bei Unternehmen verbleiben, die einen Wettbewerbsverstoß begangen haben und kann zusätzlich zu einer Bußgeldentscheidung ergehen.
Aufgrund der vor der Novelle im Gesetz vorgesehenen erheblichen Beweisanforderungen hat die Vorteilsabschöpfung bislang kaum praktische Relevanz erlangt. Durch die 11. GWB-Novelle wird eine doppelte Vermutungsregelung eingeführt, welche die Anwendung dieses Instruments zukünftig erleichtern soll:
Die erste Vermutung unterstellt, dass ein festgestellter Wettbewerbsverstoß tatsächlich zu einem wirtschaftlichen Vorteil geführt hat. Die zweite Vermutung bezieht sich auf die Höhe dieses wirtschaftlichen Vorteils. Es wird nunmehr vermutet, dass dieser Vorteil mindestens 1 % des Umsatzes beträgt, der im Inland mit den Waren oder Dienstleistungen, die mit dem Verstoß im Zusammenhang stehen, erzielt worden ist. Der abzuführende Betrag ist dabei auf 10 % des Gesamtumsatzes des vorangegangenen Geschäftsjahres begrenzt.
Das Bundeskartellamt muss damit bei Anwendung der Vorteilsabschöpfung die von den Vermutungsregeln erfassten Tatsachen nicht beweisen. Vielmehr müssen betroffene Unternehmen diese im Verfahren widerlegen, wobei auch hier die entsprechenden Hürden für Unternehmen hoch sind: So kann nicht lediglich vorgebracht werden, dass kein wirtschaftlicher Vorteil oder nur ein Vorteil in geringer Höhe angefallen ist. Um die Vermutung zu widerlegen, muss das Unternehmen vielmehr nachweisen, dass weder die am Verstoß unmittelbar beteiligte juristische Person oder Personenvereinigung noch die Unternehmensgruppe im Abschöpfungszeitraum einen Gewinn in entsprechender Höhe erzielt hat.
Neue Ermittlungsbefugnisse zur Durchführung des DMA
Die 11. GWB-Novelle sieht vor, dass deutsche Gerichte an bestandskräftige Entscheidungen der EU-Kommission, soweit es um die Feststellung eines Verstoßes nach dem DMA geht, gebunden sind. Insofern besteht nach dem DMA nunmehr für die gerichtliche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen durch Geschädigte eine vergleichbare Rechtslage, wie sie bereits für Kartellschadensersatzansprüche gilt.
Da sich diese Änderung jedoch nur auf den erleichterten Nachweis zum Vorliegen eines Wettbewerbsverstoßes als solchen auswirkt, muss der Kläger in einem gerichtlichen Verfahren nach wie vor den Beweis für das Vorliegen eines aus dem Wettbewerbsverstoß resultierenden konkreten Schadens erbringen. Anders als bei der vorgenannten Regelung im Rahmen der Vorteilsabschöpfung gibt es keine gesetzliche Vermutung, die sowohl das Vorliegen eines Schadens als auch dessen Höhe umfasst. Hier ist – ähnlich wie bei Kartellschadensersatzansprüchen – damit zu rechnen, dass sich der Nachweis eines konkreten Schadens aufgrund der hohen Anforderungen als herausfordernd erweisen dürfte. Hervorzuheben ist auch, dass weitere im Bereich des Kartellschadensersatzes geltende Regelungen, die gewisse Beweiserleichterungen (etwa die Vermutung, dass ein Schaden entstanden ist) enthalten, nicht auf den DMA erstreckt wurden. Insofern bleibt abzuwarten, ob die 11. GWB-Novelle für die private Durchsetzung des DMA tatsächlich den gleichen Paradigmenwechsel einläutet, wie dies in einigen anderen von der Novelle betroffenen Bereichen sicherlich der Fall ist.
Ergebnis
Ein Wettbewerbsrecht mit „Klauen und Zähnen“ – ob diese etwas vollmundige Ankündigung auf die 11. GWB-Novelle zutrifft, wird die Umsetzung in der Praxis zeigen. Das Bundeskartellamt hatte bereits ohne die neuen Befugnisse, die ihm durch das Wettbewerbsdurchsetzungsgesetz eingeräumt werden, bisher einen umfassenden Schutz des Wettbewerbs durchgesetzt. Gleichzeitig hat die Bundesregierung unterstrichen, das „[r]echtsstaatliche Verlässlichkeit und wirtschaftlicher Wettbewerb […] unsere Wirtschaft und unser Land“ gemeinsam stärken und darum auch eine „Wettbewerbsbehörde mit Biss“ „rechtsstaatliche Grundsätze beim kartellbehördlichen Einschreiten strikt“ zu wahren hat.
Zutreffend ist, dass die Novelle signifikante neue Befugnisse des Bundeskartellamtes nebst umfangreichen Erleichterungen für dessen Ermittlungs- und Durchsetzungstätigkeit mit sich bringt. Diese können tatsächlich als Paradigmenwechsel bezeichnet werden: Die neu eingeführte vierte „Säule“ des Kartellrechts in Form der Eingriffsbefugnisse im Anschluss an Sektoruntersuchungen stellt dogmatisch eine Abkehr von der bisherigen Systematik kartellrechtlicher Eingriffsbefugnisse dar. Denn grundsätzlich ist bereits das Vorliegen einer festgestellten Wettbewerbsstörung auf einem Markt ohne konkreten kartellrechtlichen Verstoß von Unternehmensseite ausreichend. Es handelt sich folglich um ein Instrument, das mit Bedacht eingesetzt werden muss.
In Bezug auf die Vorteilsabschöpfung ist zu erwarten, dass diese durch die neu eingeführten Vermutungen zum Vorliegen eines wirtschaftlichen Vorteils und in Bezug auf dessen Höhe eine verstärkte Relevanz gewinnen wird.
Bei den neu eingeführten Regelungen zur Durchsetzung des DMA bleibt insbesondere hinsichtlich des private enforcement des DMA abzuwarten, welche Auswirkungen diese tatsächlich haben werden. Betroffene Unternehmen sollten sich aber bereits jetzt darauf einstellen, ähnlich wie bei Kartellschadensersatzverfahren, sowohl in der Beklagten- und vor allem auch der Klägerrolle in Gerichtsverfahren aufwendige Beweisführungen vornehmen zu müssen. Das schließt auch die Vorlage umfangreicher Sachverständigengutachten mit ein.
Wie kann K&L Gates helfen?
Kontaktieren Sie uns, wenn Sie Hilfe bei der Navigation durch die komplexen und fortwährenden Entwicklungen unterliegende Landschaft des Kartellrechts benötigen.
Die Mitglieder der Praxisgruppe Wettbewerbs- und Kartellrecht von K&L Gates unterstützen Mandanten dabei, sich optimal auf die neu geschaffenen Herausforderungen einzustellen und stehen gerne bei allen in diesem Zusammenhang auftretenden rechtlichen Fragen und Gestaltungsmöglichkeiten zur Seite.
Dies gilt auch im Hinblick auf die bereits angekündigte 12. GWB-Novelle. Dort soll es darum gehen, zusätzliche Rechtssicherheit für die Zusammenarbeit von Unternehmen für mehr Nachhaltigkeit und erhöhten Verbraucherschutz zu schaffen.