Verfall von Urlaubsansprüchen – Neue Pflichten für Arbeitgeber in Deutschland
In Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften eV gegen Tetsuji Shimizu (C-684/16) hat der Europäische Gerichtshof (der EuGH) entschieden, dass die Vorschriften der EU Arbeitszeitrichtlinie (die Richtlinie) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (die Charta) zu Mindesturlaubsansprüchen einen automatischen Verfall von Urlaubsansprüchen nur unter engen Voraussetzungen zulassen. Insbesondere muss zuvor geprüft werden, ob die Arbeitnehmer in eine ausreichende Lage versetzt wurden, den Urlaub auch tatsächlich nehmen zu können. Der EuGH hat in seiner Entscheidung angemerkt, dass dies auch eine angemessene Aufklärung der Arbeitnehmer zum möglichen Verfall der Urlaubsansprüche durch den Arbeitgeber erfordern kann.
Das Bundesarbeitsgericht (das BAG) hat nunmehr die Pflichten für Arbeitgeber in Deutschland auf Basis der EuGH-Entscheidung konkretisiert. Arbeitgeber sollten darauf achten, diese Vorgaben einzuhalten, um sicherzustellen, dass ungenutzte Urlaubsansprüche von Arbeitnehmern tatsächlich verfallen können. Dies erfordert in der Regel eine individuelle jährliche Urlaubsmitteilung an die Arbeitnehmer in Deutschland. Die Nichteinhaltung der Verpflichtungen kann dazu führen, dass Arbeitnehmer Urlaubsansprüche auch noch Jahre nach dem vermeintlichen Verfall geltend machen können.
Wir gehen davon aus, dass Arbeitnehmer in Deutschland insbesondere im Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zunehmend zusätzliche Urlaubsansprüche erheben und eine zusätzliche finanzielle Entschädigung für (nicht genutzte) Urlaubsansprüche verlangen werden. Arbeitgeber, die die Einhaltung der neu aufgestellten Vorgaben nicht sicherstellen, sind deshalb mit einem zusätzlichen Kostenrisiko konfrontiert.
Nach Maßgabe des Bundesurlaubsgesetzes verfallen Urlaubsansprüche grundsätzlich am Ende eines jeden Kalenderjahres. Es bestehen nur wenige Ausnahmen, nach denen Arbeitnehmer nicht genutzten Urlaub in die ersten drei Monate eines Folgejahres übertragen können. Längere Übertragungszeiträume bestehen nur in absoluten Ausnahmefällen.
Darüber hinaus sieht das Bundesurlaubsgesetz die finanzielle Abgeltung von Urlaubsansprüchen vor, die bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommen werden konnten (soweit diese nicht bereits verfallen sind).
Es ist dabei anzumerken, dass das Bundesurlaubsgesetz nur für den gesetzlichen Mindesturlaub verpflichten ist (vier Wochen pro Jahr). Für darüber hinausgehende Urlaubsansprüche können abweichende Regelungen vereinbart werden. Werden keine abweichenden Regelungen vereinbart, gilt das Bundesurlaubsgesetz für den gesamten Urlaubsanspruch.
Das Bundesurlaubsgesetz regelt für Arbeitgeber keine ausdrückliche Pflicht, Arbeitnehmer über die individuellen Urlaubsansprüche zu unterrichten oder auf den möglichen Verfall von nicht genutzten Urlaubstagen hinzuweisen. Vielmehr folgt das Bundesurlaubsgesetz, ähnlich wie in vielen Ländern der Welt, im Allgemeinen dem Prinzip „nutzen oder verlieren“. Basierend auf den vom EuGH und dem BAG entwickelten Entscheidungen wurde dieses recht simple deutsche „nutzen oder verlieren“-Prinzip jedoch erheblich modifiziert, um einen Verstoß gegen die Richtlinie und die Charta zu vermeiden.
Das BAG verlangt nunmehr, dass Arbeitgeber „konkret“ und „in völliger Transparenz“ dafür sorgen, dass Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage sind, ihre Urlaubsansprüche zu nutzen. Arbeitgeber müssen deshalb ihre Arbeitnehmer (erforderlichenfalls förmlich) dazu auffordern, ihren Urlaub zu nehmen. Ferner müssen Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer klar und rechtzeitig über die Umstände belehren, unter denen ungenutzte Urlaubsansprüche verfallen. Dabei ist es erforderlich, sich in jedem Jahr auf die individuellen Urlaubsansprüche der Arbeitnehmer und deren möglichen Verfall zu beziehen.
Im Einklang mit diesen Verpflichtungen müssen Arbeitgeber sicherstellen, dass sie keine Situation schaffen, in der Arbeitnehmer auf Veranlassung des Arbeitgebers davon abgehalten werden, ihre Urlaubsansprüche geltend zu machen. Ob Arbeitgeber das Erforderliche getan haben, um diese Vorgaben zu erfüllen, wird stets im jeweiligen Einzelfall entscheiden. Die Arbeitgeber tragen dabei die Beweislast, da der mögliche Verlust von Urlaubsansprüchen für sie eine positive Rechtsfolge darstellt.
Abstrakte Angaben etwa im Arbeitsvertrag, einem Merkblatt oder einer Kollektivvereinbarung werden den Anforderungen an eine “konkrete und transparente” Unterrichtung in der Regel nicht genügen. Arbeitgeber können jedoch beispielsweise an jeden Arbeitnehmer eine jährliche Urlaubsmitteilung versenden, mit der der Arbeitnehmer:
- über den individuellen Urlaubsanspruch informiert wird;
- aufgefordert wird, von diesem Urlaub Gebrauch zu machen; und
- über den möglichen Verfall nicht genommener Urlaubstage belehrt wird.
Nehmen Arbeitnehmer trotz solcher jährlichen Urlaubsmitteilungen nicht ihren vollen Urlaub in Anspruch, tun sie dies regelmäßig aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen. Die Verfallsregeln aus dem Bundesurlaubsgesetz werden daher nur in einem solchen Fall einer „korrekten und transparenten Information“ anwendbar sein.
Ähnliche Pflichten gelten im Zusammenhang mit Urlaub aus Vorjahren sowie für Urlaub, der in Folgejahre übertragen werden kann.
Arbeitgeber mit Arbeitnehmern in Deutschland sollten so bald wie möglichen einen Prozess aufsetzen, mit dem sichergestellt wird, dass ihre Arbeitnehmer ausreichend über die Urlaubsansprüche und deren möglichen Verfall belehrt werden. Darüber hinaus sollten Arbeitnehmer (erforderlichenfalls förmlich) dazu aufgefordert werden, ihre Urlaubsansprüche auch tatsächlich zu nutzen.
Arbeitgeber müssen in diesem Zusammenhang auch sicherstellten, dass nach der Implementierung eines solchen Prozesses für die Arbeitnehmer noch ausreichend Zeit verbleibt, den Urlaub tatsächlich zu nehmen. Die Implementierung eines Systems erst am Jahresende wird für ein solches Jahr vermutlich nicht mehr rechtzeitig sein.
In der Zukunft sollten jährliche Urlaubsmitteilungen für Arbeitgeber mit Arbeitnehmern in Deutschland zu einer Routineangelegenheit werden. Meistens wird es dabei möglich sein, den Prozess zu standardisieren. Es können jedoch einige Fälle verbleiben, die separat behandelt werden müssen – zum Beispiel bei Ausnahmen zur Urlaubsübertragung sowie bei zusätzlichen gesetzlichen Urlaubsansprüchen.
Schließlich sollten Arbeitgeber sicherstellen, dass sie die erfolgte Belehrung ihrer Arbeitnehmer auch beweisen können. Dafür können Arbeitgeber beispielsweise individuelle Empfangsbekenntnisse von den Arbeitnehmern verlangen oder die Mitteilungen in andere dokumentierte jährliche Richtlinienprozesse einbinden.
Die Vorgaben des BAG gelten unmittelbar nur für Arbeitsverhältnisse, die deutschem Recht unterliegen. Die übergreifenden Grundsätze, die der EuGH aufgestellt hat, gelten jedoch für alle EU-Mitgliedsstaaten. Andere EU-Mitgliedsstaaten, beispielsweise Italien, setzen in Bezug auf den Verfall und die Abgeltung von Urlaub auf vergleichbare Gesetze wie Deutschland. Es könnten deshalb in solchen weiteren EU-Mitgliedsstaaten künftig ähnliche Pflichten zur Anwendung kommen. Es bleibt insoweit abzuwarten, ob und wie lokale Arbeitsgerichte in den weiteren EU-Mitgliedsstaaten die Entscheidung des EuGH umsetzen und ob sie für die Arbeitgeber in ihren Ländern ähnliche Pflichten aufstellen werden.
Vorerst sollten Arbeitgeber mit Arbeitnehmern in der EU die Situation in den über Deutschland hinausgehenden EU-Mitgliedstaaten weiter beobachten. Darüber hinaus können sie in Erwägung ziehen, Urlaubsmitteilungen auch für Arbeitnehmer in anderen EU-Mitgliedstaaten einzuführen, wenn sie dies in Deutschland ohnehin tun müssen.