Die virtuelle Hauptversammlung bleibt
Was als Corona-Provisorium geschaffen wurde, hat nun einen dauerhaften Platz im deutschen Aktienrecht erhalten: Unternehmen können ihre Aktionärsversammlungen auch weiterhin online durchführen, müssen also keine aufwändige Präsenzveranstaltung organisieren. Allerdings sind die Vorgaben für virtuelle Hauptversammlungen aus Unternehmenssicht komplex. So ist Aktionären etwa ein Rederecht im Vorfeld der Versammlung per Stellungnahme sowie während der Hauptversammlung per Live-Redebeitrag zu gewähren. Für vorab eingereichte Fragen gilt, dass die Gesellschaft diese auch vorab schriftlich auf ihrer Internetseite beantworten muss, auf Nachfragen ist ferner während der laufenden Hauptversammlung einzugehen. Anträge und Wahlvorschläge können zudem von Aktionären auch noch spontan in der virtuellen Hauptversammlung durch Videobeitrag gestellt werden. Trotz dieser erheblichen Stärkung der Aktionärsrechte bemängeln Aktionärsschützer, dass eine echte Interaktion in der Versammlung nicht ermöglicht werde. Von Unternehmens- und Verbandsseite wird demgegenüber kritisiert, dass die Komplexität der Durchführung virtueller Versammlungen auf Kosten der Rechtssicherheit bei den Beschlüssen gehe, im Übrigen das Gesetz zu kurz greife und die Chance verpasst wurde, die Hauptversammlung insgesamt effizienter zu gestalten. Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, ob die Anreize, eine virtuelle Hauptversammlung durchzuführen, groß genug sind, ein Schattendasein der virtuellen Hauptversammlung zu vermeiden. Die nachfolgenden Ausführungen geben einen kurzen Überblick über die Neuerungen im Vergleich zur bisherigen Rechtslage.
Der Deutsche Bundestag hat am 7. Juli 2022 das „Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung weiterer Vorschriften“ gebilligt und damit das virtuelle Hauptversammlungsformat dauerhaft im Aktiengesetz verankert. Bislang waren virtuelle Hauptversammlungen bereits aufgrund einer zu Beginn der COVID-19-Pandemie eingeführten und nachjustierten Sonderregelung möglich, diese gilt jedoch nur noch bis zum 31. August 2022.
Vor dem Hintergrund der Vorgabe des Koalitionsvertrags zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, dass die Aktionärsrechte auch bei virtuellen Hauptversammlungen „uneingeschränkt“ gewahrt sein sollen, sieht das Gesetz im Gegensatz zum Pandemie-Provisorium eine erhebliche Erweiterung der Aktionärsrechte, insbesondere im Hinblick auf das Frage- und Rederecht, vor.
Wie schon bisher ist Voraussetzung für das virtuelle Format, dass die gesamte Versammlung in Bild und Ton übertragen wird und die Aktionäre ihr Stimmrecht im Wege elektronischer Kommunikation (elektronische Teilnahme oder elektronische Briefwahl) sowie (elektronischer) Vollmachtserteilung wahrnehmen können. Ebenso muss für Aktionäre die Möglichkeit bestehen, auf elektronischem Weg Widerspruch gegen einen Versammlungsbeschluss einzulegen.
Die wesentlichen Neuerungen im Vergleich zur bisherigen Rechtslage sind demgegenüber wie folgt:
Satzungsermächtigung (§ 118a Abs. 1 Satz 1 AktG)
Anders als bisher steht das virtuelle Hauptversammlungsformat aber nur auf Grundlage einer Satzungsregelung oder eines Vorstandsbeschlusses im Rahmen einer Ermächtigung des Vorstands in der Satzung zur Verfügung. Die Ermächtigung kann für einen Zeitraum von längstens fünf Jahren erteilt werden. Sollten die Aktionäre dem zustimmen, kann sich der Vorstand gleichwohl für eine physische und gegen eine virtuelle Zusammenkunft entscheiden. Übergangsweise bis einschließlich 31. August 2023 ist der Vorstand allerdings noch befugt, virtuelle Hauptversammlungen auch ohne entsprechende Satzungsregelung mit Zustimmung des Aufsichtsrats einzuberufen, damit in einer solchen Versammlung dann die satzungsmäßige Grundlage für künftige virtuelle Hauptversammlungen geschaffen werden kann. Damit ist für Gesellschaften, deren ordentliche Hauptversammlung vor dem 31. August 2023 stattfindet, sichergestellt, dass in einer virtuellen Hauptversammlung die zukünftig notwendige Satzungsgrundlage für das virtuelle Format geschaffen werden kann und keine physische Übergangs-Hauptversammlung erforderlich ist.
Um Rechtsunsicherheiten im Falle einer Anfechtung zu vermeiden, erstreckt sich das Freigabeverfahren des § 246a AktG nun auch auf diesen Beschluss.
Recht auf Vorab-Stellungnahmen (§§ 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6, 130a Abs. 1 bis 4 AktG)
Aktionäre haben im Vorfeld der Versammlung das Recht, Stellungnahmen zu Gegenständen der Tagesordnung im Wege der elektronischen Kommunikation einzureichen. Das Recht kann auf ordnungsgemäß zu der Versammlung angemeldete Aktionäre beschränkt werden. Die Stellungnahmen sind bis spätestens fünf Tage vor der Versammlung einzureichen. Sie sind daraufhin grundsätzlich spätestens vier Tage vorher zumindest den ordnungsgemäß angemeldeten Aktionären bekannt zu machen. Der Umfang der Stellungnahmen kann in der Einberufung angemessen beschränkt werden.
Rederecht in der Versammlung (§§ 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 7, 130a Abs. 5 und 6 AktG)
Eine wesentliche Ausweitung im Vergleich zu den bisherigen Regelungen hat das Rederecht der Aktionäre in der virtuellen Hauptversammlung selbst erfahren. Durch das Rederecht im Wege der Videokommunikation soll die aus Präsenzversammlungen bekannte Generaldebatte nachgebildet werden. Das Rederecht wird ausdrücklich auch auf Anträge und Wahlvorschläge, das Auskunftsverlangen bzw. im Vorfeld eingereichte Fragen, Nachfragen in der Versammlung sowie in der Versammlung selbst gestellte Fragen erstreckt.
Zur praktischen Umsetzung soll ab Beginn der virtuellen Hauptversammlung ein „virtueller Meldetisch“ mit der Möglichkeit der Anmeldung von Wortmeldungen eingerichtet werden. Die Aktionäre können – wie in einer Präsenzversammlung – spontan von ihrem Rederecht Gebrauch machen. Die Gesellschaft kann eine technische Vorabkontrolle der Funktionsfähigkeit der Videokommunikation zwischen Aktionär und Gesellschaft vor dem Redebeitrag vorsehen und diesen ggf. zurückweisen, sollte die Funktionsfähigkeit nicht sichergestellt sein.
Auskunfts- und Fragerecht im Vorfeld der Versammlung (§§ 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, 131 Abs. 1a-1c AktG)
Mit der Neuregelung soll den Aktionären nicht nur ein Fragerecht, sondern ein vollständiges Auskunftsrecht nach § 131 AktG zustehen. Der Vorstand kann dabei optional vorgeben, dass Fragen der Aktionäre bis spätestens drei Tage vor der Versammlung einzureichen sind und den Umfang der Fragen angemessen beschränken. Auch kann das Fragerecht auf zu der Versammlung angemeldete Aktionäre beschränkt werden.
Entscheidet sich der Vorstand für eine Vorabeinreichung von Fragen, sind diese Fragen anders als bisher nicht erst in der Versammlung selbst, sondern spätestens einen Tag vor der Versammlung zu beantworten und bei börsennotierten Gesellschaften grundsätzlich ebenfalls über die Internetseite der Gesellschaft zu veröffentlichen. Sind die Antworten einen Tag vor Beginn und in der Versammlung durchgängig zugänglich, darf der Vorstand in der Versammlung die Auskunft zu diesen Fragen verweigern.
Auskunfts- und Fragerecht zu neuen Sachverhalten in der Versammlung (§ 131 Abs. 1e AktG)
Soweit die Option der Vorabeinreichung genutzt wird, gilt zwar zunächst der Grundsatz, nicht fristgemäß eingereichte Fragen nicht berücksichtigen zu müssen. Er dürfen in der Versammlung jedoch solche neuen Fragen gestellt werden, bei denen sich der relevante Sachverhalt erst nach Ablauf der Einreichungsfrist ergeben hat. Entscheidend soll dabei sein, dass die Frage nicht bereits vorab hätte eingereicht werden können, weil die relevanten Informationen erst nach Ablauf der Einreichungsfrist bekannt geworden sind. Als Beispiel für einen solchen Sachverhalt nennt die Gesetzesbegründung etwa Geschäftszahlen, die erst nach Ablauf der Dreitagesfrist veröffentlicht werden.
Nachfragerecht (§ 131 Abs. 1d AktG)
Die Aktionäre haben das Recht, zu allen vor oder in der Hauptversammlung gegebenen Antworten des Vorstands Nachfragen zu stellen, unabhängig davon, ob sie vorab eine Frage eingereicht haben und ob es sich um Nachfragen zu eigenen Fragen handelt oder nicht. Dies kann eine direkte (erste) Nachfrage (zu den vor der Versammlung gegebenen Antworten) oder eine weitere Nachfrage zu Antworten auf Nachfragen in der Versammlung sein. Die Möglichkeit, in der Satzung oder Geschäftsordnung für die Hauptversammlung den Versammlungsleiter zur zeitlich angemessenen Beschränkung des Frage- bzw. Rederechts zu ermächtigen, soll auch für Nachfragen gelten.
Anträge, Gegenanträge und Wahlvorschläge (§ 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AktG)
Aktionäre haben in der virtuellen Hauptversammlung die Möglichkeit, spontan Anträge zu stellen. Dies umfasst neben Geschäftsordnungsanträgen oder dem Antrag auf Bestellung eines Sonderprüfers auch Gegenanträge und Wahlvorschläge. Nach der bisherigen Rechtslage mussten Anträge bis mindestens 14 Tage vor der Versammlung übersandt werden, in der virtuellen Hauptversammlung selbst war hingegen kein Antragsecht vorgesehen.
Durch eine zuletzt eingefügte Änderung wird für das Recht, Anträge und Wahlvorschläge zu stellen, zwingend die Videokommunikation vorgeschrieben. Auch hierfür ist somit eine Zwei-Wege-Direktverbindung einzurichten. So soll das Antragsrecht dem in der Präsenzversammlung geltenden Mündlichkeitsprinzip nachgebildet und dadurch die Einbringung von Anträgen für alle Teilnehmer transparent werden.
Vorstandsbericht (§ 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 AktG)
Sofern der Vorstand von der Möglichkeit Gebrauch macht, dass Fragen vorab eingereicht werden müssen, ist er verpflichtet, den Vorstandsbericht oder dessen wesentlichen Inhalt sieben Tage vor der Versammlung zu veröffentlichen. Dies dürfte bereits der etablierten Best-Practice der letzten beiden Jahre entsprechen.
Erfasste Unternehmen
Die Möglichkeit, eine virtuelle Hauptversammlung durchzuführen, besteht sowohl für börsennotierte als auch für nicht börsennotierte Gesellschaften. Neben der Aktiengesellschaft werden auch die Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA), die in Deutschland ansässige Europäische Aktiengesellschaft (SE) sowie der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG) erfasst. Zuletzt wurde das Gesetz noch auf Genossenschaften ausgedehnt, die nun auch ihre Generalversammlungen virtuell stattfinden lassen können.